Achtsamkeit bedeutet „zu wissen, was man erlebt, während man es erlebt, ohne es zu bewerten.“ Doch manchmal ist das, was wir fühlen, sehr schmerzhaft und wir können es nicht lassen, gegen die Erfahrung anzukämpfen und uns zu kritisieren. Das ist der Augenblick, wo wir uns selbst gegenüber eine neue Haltung einnehmen müssen: Selbstmitgefühl!
Chris Germer

WAS IST ACHTSAMKEIT?

John Kabat Zinn beschreibt die Achtsamkeit als „Gewahrsein, das entsteht, wenn man die Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Augenblick bewusst auf das Erleben von Moment zu Moment richtet, ohne zu urteilen.“ Er geht daher auf die zeitliche Dimension des Erlebens ein. Guy Armstrong betont den inneren Beobachter, durch den wir wahrnehmen was wir erleben von einer Beobachterposition aus: „Zu wissen, was man erlebt, während man es erlebt.“

Stellen dir vor, du sitzt im Kino und bist völlig von der Handlung des Films umfangen. Du fühlst mit den Darstellern mit und gehst in der Situation auf. Plötzlich raschelt jemand neben dir mit einer Popcorntüte. Du wirst förmlich herausgerissen aus deinem Erleben und nimmst plötzlich wieder wahr, dass du im Kino sitzt. Vielleicht siehst du noch deinen Nachbarn, riechst die Popcorn und spürst wie unbequem der Sitz ist. Das ist Achtsamkeit. Du beobachtest plötzlich was konkret um dich herum geschieht, während du es erlebst.

So wie vom Kinofilm, werden wir häufig von unseren Gedanken, Gefühlen und von unseren Geschichten und Urteilen mitgerissen und nehmen gar nicht mehr wahr, was gerade in und um uns wirklich passiert.

Zum Beispiel könnte Achtsamkeit in uns so aussehen: „Aha, ich denke gerade daran was in der Zukunft passieren könnte. Aha, ich denke an das Erlebnis aus der Vergangenheit und verliere mich in der Geschichte aus der Vergangenheit und fühle das, was ich damals gefühlt habe. Aha, da ist gerade Hilflosigkeit, da ist gerade Wut,…Aha, ich fühle gerade einen Druck in der Brust, einen Schmerz im Bauch,…“

Christopher Germer, der Miterfinder des MSC, geht in seiner Definition auf das Moment der Akzeptanz ein. Für ihn ist Achtsamkeit: „Gewahrsein des gegenwärtigen Augenblicks mit einer akzeptierenden Haltung.“

(Vgl. Mangold, Jörg: Wir Eltern sind auch nur Menschen Selbstmitgefühl zwischen Säbelzahntiger und Smartphone, 2. Auflage Freiburg im Breisgau 2019)

An den Definitionen sieht man, dass der Begriff nicht eindeutig zu erklären ist. Es ist eine Art geistiger Aktivität, bei der die eigene Aufmerksamkeit bewusst auf unsere Wahrnehmung und unser Erleben gerichtet wird. Achtsamkeit ist ein präkonzeptuelles Gewahrsein. Das bedeutet, dass wir nur mit Definitionen nicht wirklich erfahren können was es ist. So ähnlich wie wir jemand, der noch nie einen Apfel gegessen hat, nicht ausreichend den Geschmack, die Haptik und den Geruch eines Apfels näherbringen können, wenn wir das mit Worten versuchen. Am Besten sollte der Apfel gerochen, ertastet, geschmeckt, werden.

So ist das auch mit Achtsamkeit. Probiere es selbst aus!

Zunächst unter geführter Anleitung übst du dich immer mehr in der Fähigkeit der Achtsamkeit bis sie ein wichtiger Teil deines Lebens wird.

Neurobiologen haben nachgewiesen, dass Achtsamkeitspraxis positive Veränderungen in den Strukturen des Hirns schafft. Es ist ein hellwacher Zustand. Nicht zu verwechseln mit Trance wie sie in Hypnose oder bei Phantasiereisen gemacht wird. Achtsamkeit ist eine direkt gerichtete Aufmerksamkeit. Der Mensch wird seiner Umwelt und seines Körpers gewahr. Er nimmt wach und ohne zu bewerten oder sich in Gedanken darüber zu verstricken seine Emotionen, Gedanken, seinen Atem und seine Körperempfindungen war. Dadurch identifizieren wir uns nicht mit unseren Erfahrungen, sondern betrachten sie mit Abstand. Alle Erfahrungen, Gefühle, Gedanken werden gleichmütig wahrgenommen und angenommen.

Die Achtsamkeit ist keine Art der Manipulation unserer Gedanken. Es werden ALLE ERFAHRUNGTEN angenommen. Es geht nicht darum nur noch „schöne“ oder „gute“ Dinge wahrzunehmen oder sich gar durch positive Affirmationen selbst zu manipulieren. Alles was in unser Gewahrsein kommt wird erfasst und ohne darauf einzugehen so sein gelassen wie es ist.

Achtsamkeit ist eine Fähigkeit im Menschen, die durch gezieltes Training verbessert werden kann.

ACHTSAMKEIT ALS VORAUSSETZUNG FÜR SELBSTMITGEFÜHL

Wir brauchen die Achtsamkeit um selbstmitfühlend agieren zu können. Wenn wir nicht wahrnehmen, dass da gerade Schmerz oder Leid ist, wenn wir Gedanken und Gefühle aus verschiedenen Gründen gar nicht wahrnehmen, können wir auch nicht selbstfreundlich und regulierend darauf eingehen.

ACHTSAMKEIT UM NICHT ÜBERWÄLTIGT ZU WERDEN

Durch Achtsamkeit verankern wir uns im gegenwärtigen Moment. Dadurch können wir nicht so leicht von starken Emotionen oder der Identifikation mit Gedanken überwältigt werden.

Ebenso wirkt Achtsamkeit gegen die Tendenz der Verdrängung. In schwierigen Momenten oder bei schwierigen Gefühlen kommt es vor, dass wir bestimmte Inhalte unseres Erlebens ausblenden und verdrängen, weil sie uns unangenehm sind. Wenn wir lernen achtsam zu sein, schaffen wir es auch alle Gefühle und Gedanken zuzulassen ohne sie zu verdrängen. Dadurch erhalten wir unsere psychische Gesundheit.

WAS IST DAS ZIEL DER ACHTSAMKEIT?

Diese Frage ist schwierig, denn man kann sie nur mit einem scheinbaren Widerspruch beantworten. Einerseits haben wir meistens ein Ziel vor Augen weshalb wir mit etwas beginnen. So werden auch manche mit der Idee in die Achtsamkeitspraxis einsteigen, weil sie sich entspannter fühlen wollen, lebendiger werden, besser mit Stress umgehen usw. Aber das Paradoxe ist, dass jede Absicht, jedes Wollen auf eine Veränderung des Jetzt-Zustandes hinführt. In der Achtsamkeitspraxis geht es jedoch um das Annehmen unseres So-Seins, ohne etwas verändern zu wollen. Wenn wir in der Achtsamkeit geübter sind und unser Wahrnehmen und Erleben wertungslos annehmen, dann verändern wir uns. Unser Erleben wird sich voraussichtlich intensivieren und wir werden mehr in uns ruhen können.